Eine Kurzgeschichte von Kurt H. Brunner
Autor von "Zum Teufel mit dem Kuckuck" (ISBN 978-3-9817174-8-8)
Bei Ausbruch der Corona-Epidemie bleibt Gustav Böck mit seiner Frau auf einer abgelegenen Südseeinsel unfreiwillig gestrandet. Wegen einer zugelaufenen Katze gibt es Streit. Kurz darauf erkrankt Herr Böck schwer und stirbt. Wird das Rätsel um seinen Tod gelöst?
Polynesien, dessen Inseln sich über eine weite Fläche zerstreuen, liegt im nördlichen und südlichen Pazifik, dort, wo für machen von uns Träume beginnen; oder enden. Vor langer Zeit haben die ersten Seefahrer sie hierher gebracht: Schweine, Hühner, Hunde, ungewollt auch Ratten … und Katzen.
"Alles nur wegen ihr!"
"Bitte, fange nicht schon wieder damit an. Ich ..."
"Doch", fiel ihm seine Frau Amalia ins Wort, "ohne sie hätten wir den Flug nicht verschlampt und wären jetzt auf der Rückreise in die Zivilisation."
"Du weißt genau, dass ich es nicht übers Herz gebracht hätte, sie wieder auszusetzen“, protestierte Gustav Böck. Schon sein Alter Herr wurde Gustav genannt. Kreativ war das nicht. Er fingerte im Fruchtfleisch einer Kokosnuss herum. Das tat er neuerdings immer, wenn er sich langweilte. Seit ihm seine Frau das Rauchen vermiest hatte, war er auf diese Nüsse ausgewichen. Irgendein Laster sollte man sich ja noch gönnen dürfen. Und da gab es eben noch die Katze.
Schwarz war sie, schwarz wie der Teufel in einer finsteren Regennacht und stattlich wie eine ausgewachsene Wildkatze, mit ungewöhnlich großen Ohren. Sonst fiel nichts an ihr auf. Sie war weder eigenwillig noch unberechenbar, wie Katzen oft sind. Auch keineswegs verschlossen oder gar listig. Gott bewahre, sie war einfach nur anhänglich.
"Man sollte nicht Unmengen von diesem fettigen Zeug essen, es macht dick!"
Mit ’man’ und ’Zeug’ waren er und die Nüsse gemeint. Etwas beschämt strich sich Herr Böck über den Bauch, der bereits über den Hosenbund schwappte.
"Nur ihretwegen sitzen wir jetzt auf dieser Insel fest."
"Auf ein paar Wochen mehr wird es wohl nicht ankommen. Wir müssen uns damit abfinden, die Zeit wird für uns spielen."
"Du bist ein unverbesserlicher Optimist, bestimmt wird es länger dauern."
Nach den vielen Ehejahren kannte Frau Böck ihren Mann gut, vielleicht zu gut.
"Dann halt länger. Ich mag sie eben."
Mit der rechten Hand versuchte er eine aufdringliche Fliege totzuschlagen, die ihn auf der Nase kitzelte und verschüttete dabei Bier vom Glas in seiner linken. Ein missbilligender Blick seiner Frau traf ihn. Die leichte Brise auf der Veranda trug den Gestank vom nahen Plumpsklo heran, das nicht viel mehr war als ein Häuschen mit einem leeren Ölfass, das man in den Boden eingelassen hatte. Wenn es hier ein Gesundheitsamt gäbe, hätte man sicher nicht erlaubt, es so nahe bei der Terrasse hinzustellen, sinnierte Gustav Böck. In großen Zügen trank er sein lauwarmes Bier aus und starrte Löcher in den Himmel. Dort oben über den Wolken musste die Freiheit grenzenlos sein.
Eines Tages, als sich flauschige Silberwölkchen im weiten Blau des Himmels sonnten und er mit seinem Insulanerfreund Lono zum Fischen aufbrechen wollte, da war ihm diese schwarze Katze über den Weg gelaufen und scharwenzelte um seine Beine. Von da an war sie ihm immer und überall hin gefolgt, treuer als ein Hund, und in gewiss nicht völlig uneigennütziger Erwartung auf einen guten Fang sogar aufs Boot. Lono verzehrte die Fische manchmal gleich roh mit etwas Zitronensaft. Die Katze beharrte stur auf Fisch ohne Limone. Herr Böck mochte sie sehr, da sie weder bellte noch hechelte, oder wie seine Frau kreischte. Auch war nicht zu befürchten, dass sie ihm die Sandalen verschleppte, wenn er diese vor der Tür ließ. Das taten nur Hunde. Katzen würden sich so etwas nie trauen. Vergeblich hatte er gehofft, seine Frau würde für seinen Liebling ebenso viel übrig haben wie er, aber das tat sie nicht. Denn, als die Katze ihm ihre Zuneigung mit einer tot gebissenen Ratte beweisen wollte, welche sie treuherzig auf sein Schlaflager legte, bekam er ein nicht zu unterschätzendes Problem; nicht mit der Katze, sondern mit seiner angeekelten Frau.
Es gab Momente, wo er in Erwägung zog, sich von ihr zu trennen, zu oft litt er unter ihrer Haube. Nur die Sachlage, dass er ein Gewohnheitsmensch war und sie sehr gut kochen konnte, hielt ihn davon ab. Insgeheim ärgerte er sich über seine mangelnde Kenntnis dieser Kunst. Die eigenen Anstrengungen in dieser Richtung hatten bisher stets in einem angebrannt riechenden Chaos geendet. Vor längerer Zeit war ihm nach einem anstrengenden Arbeitstag, als er auf die spießigen Geranien vor dem Fenster blickte und sich über den beißenden Rauch vom Grill des Nachbarn ärgerte, bewusst geworden, dass er sich in einer Midlifekrise befand. Eine graue Maus war er gewesen. Immerhin er hatte sich einiges zusammengespart, das nach einem Entschluss schrie. Im Spiegel hatte er ein blasses Gesicht gesehen, das dringend Urlaub brauchte. Gerade noch rechtzeitig, bevor die Tretmühle des Alltags und das Katzbuckeln im Berufsleben ihn einholten, bevor sein Leben gänzlich an potenzielle Eierdiebe verpfändet war, war ihm die Idee von der Auszeit auf einer einsamen Insel gekommen. Er hatte nur noch den Wunsch: Weg von allem, um sich einen alten Jugendtraum zu erfüllen. Geradezu besessen war er. Denn ist es nicht so, dass jedermann irgendwann, irgendwo eine Insel braucht? Und zweifellos war dort mehr Spaß zu finden als beim Ausfüllen von Steuererklärungen. Es dauerte noch eine ganze Weile, bis er wagte, diesen Entschluss seiner Frau mitzuteilen. Gänzlich wider der Erwartung und zu seinem Unbehagen wollte sie mitkommen. Ja, sie war sogar regelrecht begeistert und saß ihm mit süßem Gezwitscher so lange im Nacken, bis er nicht anders konnte, als sie mitzunehmen. In jungen Jahren hatte man ihn oft um seine Frau beneidet. Sie war schlank gewesen, von makelloser Figur, wenn auch nicht ganz so perfekt wie die Venus von Milo. Obwohl man sie zuhause nach all den Ehejahren nicht mehr für besonders anmutig hielt, musste er auf der Südseeinsel dann feststellen, dass sie es hier – wo die meisten Frauen, wenn sie in die Dreißigerjahre kommen, bereits zur Fülle neigen – noch immer war. Und wenn er ehrlich sein wollte, störte an ihr nur der Hang zum Nörgeln.
Herrn Böck eine übertriebene Eitelkeit nachzusagen wäre ungerecht gewesen. Außer der vom Trinken leicht geröteten Nase war er mit seinem gutbürgerlichen Aussehen zufrieden, dies, obwohl er schon etwas verbraucht wirkte und sein Haarwuchs nicht mehr der Rede wert war. Aber er mochte es nicht, wenn sich seine Frau über ihn lustig machte und überall herumschwatzte, wie er neulich bei einem Ausflug rücklings über Bord gefallen war. Damals hatte sein Freund und Nachbar Lono in seinem zerschlissenen blaugeblümten Hemd den Kopf unter einem geflochtenen Strohhut vor der sengenden Sonne verborgen, so gelassen, als wäre er beim Forellenfischen, einen stattlichen Haifisch an der Angel. Mit der freien Hand entledigte er sich des Hutes. Das war das Zeichen gewesen, dass etwas Schwieriges bevorstand. Mit erheblicher Mühe war es ihm gelungen, den enormen Raubfisch ins Boot zu ziehen, direkt Gustav Böck vor die Füße. Der Hai hatte im Todeskampf wahllos nach allem geschnappt, was sich in der Nähe seiner scharfen Zahnreihen befand. Und das war er gewesen, Gustav Böck. Vor Schreck war er zurückgewichen und fiel rücklings über Bord. Es hatte eine Ewigkeit gedauert, die Bestie mit einem Knüppel zu erledigen. Erleichtert setzte Lono seinen Strohhut wieder auf. Als es Böck, triefend wie eine Kanalratte, gelungen war,fgd das schwankende Boot wieder zu entern, trat er im unaufgeräumten Boden auf einen Fisch. Er verlor das Gleichgewicht und stürzte in eine Schweinerei aus Schmutz, Blut und Gedärm. Laut fluchend hatte er zurück gewollte, um sich im Meer zu säubern, leider tummelten sich da inzwischen mehrere hungrige Haifische. Deshalb hatte er es vorgezogen, geschändet und verschwitzt im Boot zu bleiben, allerdings mit dem heimlichen Verlangen, bald das Ufer zu erreichen. Seine Frau hatte wie die Galionsfigur einer Lorelei im Bug gesessen und sich köstlich amüsiert.
"Gustl, warum schaust du so betrübt aus? Ist dir nicht wohl?", rief sie ihm fröhlich zu, das Stottern des altersschwachen Bootmotors wie ein Nebelhorn übertönend. Sie war es auch, die ihn darauf hinwies, Lono habe viermal so viele Fische gefangen wie er. Begreiflich, dass er nicht gerne an diese Geschichte erinnert werden mochte, zumal sich die fantasievoll ausgeschmückte Version seiner Frau nicht mit der seinen deckte.
Bald darauf war man wieder beim Angeln. Es war vor Weihnachten, und man wollte mit gegrilltem Fisch feiern. Gustav Böck hoffte inständig, dass diesmal kein Hai anbeissen würde. Eben bemühte er sich, als Köder einen Einsiedlerkrebs aus seinem Muschelgehäuse zu zerren. Das war schwieriger, als er es sich vorgestellt hatte. Zwar hatte der Krebs keine Scheren, aber es ekelte ihn. Kurzerhand überwand er sich, riss dem Krebs eines der zappelnden Beine aus und versuchte ihn am Angelhaken aufzuspießen. Beim Herumfummeln stach er sich in den Finger, ließ sich aber nichts anmerken, da seine Frau und Lono zuguckten und er sich nicht lächerlich machen wollte. Verflucht, dachte er, an solch einem rostigen Ding kann man sich leicht Starrkrampf, eine Blutvergiftung oder weiß der Kuckuck was holen. Wie auch immer, Fischen war nicht gerade seine Sache. Er versuchte seine unerwünschten Zuschauer abzulenken: "Habt ihr gewusst, dass wir, die Krone der Schöpfung, neuerdings Delfine abrichten, damit sie im Krieg Seeminen an Schiffe anbringen, und Ratten trainieren, um Landminen zu erschnüffeln? Sagt mal, findet ihr das nicht ein bisschen pervers?"
"Und wie würdest du es nennen, armen Krebsen bei lebendigem Leib die Beine auszureißen?", konnte sich Amalia nicht verkneifen. Die Antwort blieb er ihr schuldig.
"Willst du nicht vom Fisch essen, den ich gleich fangen werde? Wie wäre es, mir etwas behilflich zu sein?"
Schweigsam warteten Lono und Gustav, beide weit über den Bootsrand gebeugt, ob sich im Wasser etwas regen würde.
"Seemänner, lasst das Träumen", spottete Amalia. Lange sagte keiner mehr etwas.
"Mir wird übel", sagte Gustav schließlich. "Ich muss gleich kotzen." Er rülpste laut.
"Aber kotze uns bitte nicht das Schiff voll", sagte Amalia.
"Außer Kaffee haben wir beide heute noch nichts getrunken", rechtfertigte sich Lono für seinen Freund.
"Ich glaube, einer hat angebissen", meinte Amalia.
Herr Böck überlegte gerade, ob er, bevor er sich übergab, vorsichtshalber seinen Zahnersatz herausnehmen sollte, dessen Verlust er keinesfalls riskieren mochte.
"Es muss an der Dünung liegen", sagte Lono.
Dann war es für Maßnahmen zu spät und man hörte Gustav würgen.
Als alles vorüber war, konnte er erleichtert feststellen, dass die Zähne gehalten hatten und nun schlagartig erfreulich viele Fische das Boot umschwammen.
Der Bungalow, direkt an der Lagune des Atollrings gelegen, hatte ein hübsches Dach aus geflochtenen Palmblättern. Seine Wände waren aus roh zugesägtem Palmholz gezimmert. Die Fenster wiesen gläserne Kipplamellen auf, die zwar nicht die Luftzirkulation behinderten, die lästigen Mücken leider auch nicht.
Sooft man ihn auch wischte, der Zementboden fühlte sich unter den nackten Füßen immer sandig an. Im zähen Silbergras, das das Haus umwucherte, standen unordentlich einige Oleander- und Hibiskusbüsche. Neben der Eingangstür aus knallrot angestrichenem Sperrholz erstreckte sich die kleine überdachte Veranda. Auf dieser saß nun Herr Böck, ausgestreckt in seinem Liegestuhl, eine große Bierflasche in der Hand. Wie er so zur Tür blickte, da störte ihn dieses Rot, das er dem wenig kultivierten Geschmack des Besitzers anlastete. Oft führte er im Liegestuhl Selbstgespräche und hatte dort auch die ausgefallensten Gedankenblitze. Warum das so war, das konnte er nicht sagen. Wie wäre es, begann er zu überlegen, wenn man auf Sonnenenergie oder Regenwasser eine Abgabe erheben würde? Das könnte neue Arbeitsplätze beim Steueramt schaffen. Andererseits würde das System zusammenbrechen, lange bevor der allerletzte Einwohner sein Salär vom Staat bezöge. Er war sich vollkommen bewusst, dass er vorsichtig sein musste, sich mit solch ketzerischen Gedanken nicht zu weit aus dem Fenster zu lehnen. Genie und Wahnsinn liegen ja bekanntlich eng beieinander. In der Gemeindeverwaltung hatten die Honoratioren stets große Pläne, von denen andererseits meist nur wenige ausgeführt wurden. Diesmal kam es anders. Bestimmt, weil dabei auch etwas Geld unter dem Tisch die Hand gewechselt hatte. Ein ehrgeiziger Bürokrat mit weniger Bedenken hatte dort den gleichen Einfall. Die bewährte Vorrichtung zum Auffangen des Regens wurde abgerissen und an ihrer Stelle eine teure Meerwasserentsalzungsanlage installiert. Von nun an sollten die Leute ihr Trinkwasser kaufen, da mit Strafzetteln wegen Fahrradfahrens des Nachts ohne Licht oder Falschparkens zu geringe Einnahmen erzielt wurden. Neben den wenigen Drahteseln gab es auf der Insel nur ein einziges Auto.
Das anstrengende Nachdenken und die tropische Hitze hatten Gustav Böck durstig gemacht. Er klammerte sich inzwischen bereits an die dritte Flasche. Immerhin hatte er nun Grund zu behaupten, Biertrinken käme nicht viel teurer als Wasser von der Entsalzungsanlage. Im Transistorradio war gerade Wunschkonzert: Mahina grüsst ihre Mutter Luana und ihren Vater Nuihau sowie ihre beiden Geschwister Fangatua und Anahera. Tausend Küsse auch an das Bébé Fetumale. Die Glückwünsche wollten kein Ende nehmen. Darauf folgte eine Sendung mit einem politischen Machtgerangel, das ihn nicht interessierte. Als er angewidert das Radio ausschalten wollte, kam die Eilmeldung, dass eine neue Virusseuche ausgebrochen sei und wegen ihrer Gefährlichkeit bald einschneidende Maßnahmen angeordnet würden. Da sonst wenig aussagekräftige Fakten genannt wurden, konnte er sich kein genaueres Bild machen. Die überraschende Nachricht verursachte in seinem Bauch panikartige Krämpfe. Er eilte zur Latrine. Nach einer längeren Sitzung und sorgfältiger Überlegung, nur unterbrochen von ungewohnt aufsässigen Fliegen, beschloss er, sofort den Rückflug zu buchen, bevor andere schneller waren. Seit man überall versuchte, mit Computern die Effizienz zu steigern, war das kompliziert und dauerte länger als zuvor. Er nahm sein Mobiltelefon. Nach endlos langem Daumendrehen in der Warteschlaufe meldete sich endlich eine Stimme.
“Ich möchte Auskunft wegen einer Katze", begann er.
"Was möchten Sie? Ich verstehe schlecht."
„Es … es handelt sich um eine Katze", schrie er in das Telefon, denn die Verbindung rauschte und knackte störend.
"Sie müssen falsch verbunden sein, wir handeln nicht mit Katzen."
"Nein, es geht um den Transport einer Katze mit Ihrer Fluggesellschaft."
"Ach so, das ist etwas anderes. Sie können uns Ihre Fragen per E-Mail zusenden."
"Das habe ich bereits versucht. Aber Ihre Mailadresse ist im Internet nirgendwo zu finden."
"Haben Sie es auch auf unserer Webseite versucht?"
"Das habe ich getan. Ging aber nicht. Um dort eine Nachricht zu hinterlassen, muss man seine Ticketnummer eingeben. Nur kann ich die erst wissen, nachdem ich bereits einen Flugschein habe."
"Wirklich? Also dann, stellen Sie mir Ihre Fragen in Gottes Namen am Telefon."
"Ohne vorherige Rücksprache wird ER sich darüber kaum freuen."
"Wie bitte?"
"Es war bloß ein Scherz."
"Ach so ... wie groß ist das Tier denn?"
"So groß wie eben Katzen sind."
"Und wie schwer ist sie?"
"Wie soll ich das wissen, in meiner Nähe gibt es keine Waage."
"Findet sie in einem Transportkorb für Kleintiere Platz?"
"Na ja, ich denke schon."
"Hat sie einen implantierten Chip?"
"Was ist das?", fragte Herr Böck verunsichert und fühlte sich ziemlich dämlich.
"Ich meine so einen digitalen Datenspeicher unter der Haut, in dem alle Gesundheits- und Impfdaten ihrer Katze registriert sind."
"Ich denke, sie ist nicht geimpft."
"Das müssen Sie vor dem Abflug unbedingt nachholen."
"Alles klar, aber was mache ich, falls ich keinen Tierarzt finde, der über diese modernen Chips verfügt? Wird man im Abflug-, im Transitflughafen und am Ankunftsort auch ein schriftliches Zeugnis akzeptieren?"
"So genau kann ich Ihnen das nicht sagen. Es ist Ihr Risiko, unserer Fluggesellschaft ist es egal. Falls man aber streng nach Dienstvorschrift vorgeht, ist es natürlich möglich, dass Ihre Katze in Quarantäne genommen wird."
"Aha, so ist das also."
Als Herr Böck wusste, wie der Hase läuft, oder in seinem Fall die Katze, gönnte er sich erst einmal ein paar kräftige Züge aus der Flasche.
Tage später, bedingt durch bürokratische Verzögerungen, war es ihm endlich gelungen den Flug zu reservieren. Angeblich waren nur noch Plätze in der teuren Businessklasse frei gewesen. Immerhin war dort genügend Raum für die Katze. Er hoffte nur, dass sie niemanden stören würde. Stolz wollte er seiner Frau die geglückte Buchung auf dem Bildschirm seines mobilen Telefons zeigen. Da aber hatte der Akku seinen Geist aufgegeben.
Die wenigen Sachen waren bereits in Taschen und Koffern verpackt. Leider wurden dann, kurz vor der geplanten Heimreise, die Seuchenauflagen massiv verschärft und der internationale Flugverkehr ganz eingestellt. So war es gekommen, dass im beginnenden Armageddon Herr Böck mit seiner Frau auf Gedeih und Verderb auf dieser nunmehr verwunschenen Insel festsaß. Zuversichtlich beschloß er, bessere Zeiten abzuwarten. Das ging am besten im Liegestuhl. Zu seinen Füßen lag die schwarze Katze und träumte … vermutlich von einer fetten Ratte. Es schien sich um einen erbitterten Kampf um Leben oder Tod zu handeln, denn ab und zu fuhr sie hoch, verzog das Maul zu einem wüsten Fauchen, schlief dann aber gleich weiter. Beunruhigt schaute Herr Böck den Vögeln zu, die tief über der Lagune nach Insekten kreisten, was bedeuten konnte, dass bald ein Wetterumschlag zu erwarten war. Das jedenfalls hatte sein Freund Lono behauptet, als sich ihre meist fantasielosen Gespräche nicht um die Lieblingsthemen Fischen und Saufen drehten. Nur einmal hatte er Gustav Böck anvertraut, dass er früher ab und zu einen Joint geraucht habe. Seit aber die Gendarmen aus der Hauptstadt auf die Insel gekommen waren und in einer wilden Orgie sein Gärtchen mit den liebevoll umhegten Pflänzchen hoffnungslos verwüstet hatten, sei ihm einzig der Schnaps geblieben. Nur einmal noch sei ihm das Glück hold gewesen, als er auf dem Meer treibend einen Klumpen grauer Ambra gefunden habe, den ein Wal ausgespieen hatte. Er konnte ihn damals bei einem Chinesen, der wusste, dass die Parfümindustrie dafür gut zahlen würde, für einige Kisten Bier eintauschen. Wenn jetzt der Erlös für die Kopraernte niedrig sei und seine Finanzen für Bier nicht reichten, müsse er sich mit einem selbstgebrauten Fusel aus Reis, Hefe, Zucker und Wasser behelfen.
Dieses Gebräu, mit dem ihn sein Freund großzügig versorgt hatte, war Herrn Böck nun in den Kopf gestiegen. In den Blechstreifen an den Stämmen der Kokospalmen, die den hungrigen Ratten das Hochklettern verhinderten, spiegelte sich das Licht der untergehenden Sonne. Zu dieser Stunde lechzten Mücken und Sandfliegen immer nach Blut. Gustav Böck brachte sich im Bungalow vor ihnen in SicherheitAm nächsten Morgen erwachte er schweißgebadet aus einem bösen Traum. Er hatte geträumt, dass ihm beim Fischen sein Zahnersatz ins Wasser gefallen war. So, dachte er, jetzt verfolgen dich manche Ereignisse schon bis ins Unterbewusstsein! Er erinnerte sich auch schwach, dass sich nicht nur Gespräche im Kreis drehen konnten. Gestern war es sein Bett gewesen, die unausweichliche Folge von Lonos Schnaps. Als er sich dann erheben wollte, meinte er Fieber zu haben. Erschöpft sank er ins Kissen zurück. Es war lange her, dass er das letzte Mal ernsthaft krank gewesen war, es musste in seiner frühen Kindheit gewesen sein. Dass es ihn jetzt erwischt haben sollte, schien lächerlich absurd. Nur dieser trockene Husten, der ihm zu schaffen machte, der ließ sich nicht leugnen. Seine Frau war überzeugt zu wissen warum er erkrankt war. Sie wusste immer alles besser … was gelegentlich sogar stimmte. Man befand sich mitten in der Regenzeit und oft hatte sie ihren Mann gewarnt, nicht in nassen Klamotten herumzulaufen. Erfolglos bemühte sich Böck wieder einzuschlafen. Schäfchen zählen war nutzlos. Neben seinem Bett stand ein wackeliges Nachttischchen, das hintere linke Bein von einem Bieruntersatz gestützt. Er zog die Schublade auf. In ihr befand sich das zerfledderte Exemplar eines Buches. Wahrscheinlich hatte es jemand vergessen, vielleicht auch absichtlich zurückgelassen. Er hatte bisher der Versuchung widerstanden, es zu lesen. Daneben lag seine nicht mehr ganz saubere Unterhose und eine kleine, aus dem Tuffgestein der Insel gearbeitete Statue eines Tikis. Diese heilige polynesische Ahnenfigur war ihm ziemlich teuer auf dem Markt angedreht worden. Zudem, der Aufmerksamkeit seiner Frau entgangen, wüteten etliche hungrige Kakerlaken über einem angebissenen Keks. Als er nach dem Buch tastete, klebte an seiner Hand ein Kaugummirest. Auch dies eine Hinterlassenschaft. Er fischte das Buch heraus und begann zu lesen. Der Buchautor war ein gewisser Reverend. ’Finde Dich selbst’, stand großspurig auf dem Einband. Wie aber sollte er sich finden? Dies glückte nur seiner Frau, wenn er mit Saufkumpanen nach Arbeitsschluss noch irgendwo herumgehangen hatte. Gustav Böck fand seine Lesebrille gleich auf Anhieb, was selten vorkam, und setzte sie auf die Nase. Sein Zeigefinger, dick wie eine Jamswurzel, folgte den Zeilen. Der Mann, der die Abhandlung geschrieben hatte, schien gebildet zu sein. Das war wohl der Grund, weshalb bereits die erste Seite für ihn unverständlich war. Sich zu konzentrieren bereitete ihm große Mühe, und er bekam Kopfschmerzen. Lesen war nie seine Stärke gewesen. Nach kurzer Zeit gab er es auf. Immerhin hatte sich der Aufwand ausgezahlt. Eingeklemmt zwischen den Seiten fand er einen Fünfdollarschein, der offensichtlich als Buchzeichen gedient hatte. Er legte das Buch zurück, kramte nach seinem Tiki-Fetisch und wendete die Statue wie ein fachkundiger Museumskurator liebevoll in den Händen. Viel verstand er zwar nicht davon, aber für ihn sah sie echt antik aus. Aber außer der Nachbarin, die vor deren übersinnlichen Kraft warnte, glaubte dies keiner. Hier am Ende der Welt, wo es keine Füchse und Hasen gibt, die sich gute Nacht sagen, wo nur selten jemand hinkommt, hatte er sich vor der neuen Seuche sicher gefühlt. Warum also sollte er sich damit angesteckt haben? Es gab hier zu einer Übertragung weder Fledermäuse noch Schuppentiere. Da er nicht viel von Plastikkarten hielt, die immer dann nicht funktionierten oder gesperrt waren, wenn man dringend Geld brauchte, hatte er zum Glück genügend Bares mitgenommen. Wenigstens war so die finanzielle Seite gesichert. Er redete sich ein, nur eine harmlose Erkältung zu haben. Oder hatten etwa Vögel das Unheil hergebracht? Das hohe Fieber blieb Tatsache. Es fühlte sich an, als ob heiße Flammen aus seiner Stirn hochzüngelten. Zum Henker mit dem Fieber! Tatsache war leider auch, dass es auf diesem Atoll keinen Arzt gab.
Etwas verloren dürsteten auf dem Tisch Hibiskusblüten und Frangipanis nach Wasser. Seine Frau hatte sie mit beträchtlicher Mühe hübsch in einer Schale arrangiert. Stumpfsinnig starrte er zur Wand, wo neben dem eingetrockneten Blutfleck einer zerdrückten Mücke soeben eine stattliche Spinne hochkroch. Er vermeinte, sie starre ihn mit all ihren acht Augen an. Vor Spinnen hatte er panische Angst, um genau zu sein, besonders von jenen mit langen, haarigen Beinen. In grässlichen Albträumen hatte er sie manchmal über sein Gesicht kriechen geglaubt. Wenigstens ist es keine Wanze oder gar eine Ratte, dachte er. Dann glitt sein Blick durch das offene Fenster über die Lagune auf die andere Seite des Atollrings, der im Grunde nichts anderes war als der Rand eines längst erloschenen Vulkans. Draußen frischte der Wind auf, es roch modrig nach Regen und bald stürmte es stark. Die Seevögel hatten irgendwo Schutz gesucht. In der Ferne vernahm man das Donnern der Brandung, die gegen das Riff schlug. Der weiße Korallensand blendete die Augen nicht mehr und das Wasser der Lagune war nicht mehr zauberhaft azurblau wie an sonnigen Tagen; nein, nun drohte es grau und finster. Ein Schwarm fliegender Fische, auf der Flucht vor einem Raubfisch, segelte über die aufgewühlten Schaumkronen. An den Korallenbänken bäumten sich die Wellen gleich scheuenden Rossen auf. Dort drüben, jenseits dieses Gewässers, da wäre er in Sicherheit. Dort drüben würde das Flugzeug landen, wenn es bei diesem Sturm möglich wäre. Er raffte sich auf und schleppte sich zur Verandatür. Im nahen Unterholz stritten sich mit hoch erhobenen Zangen zwei riesige Krabben wie römische Gladiatoren. Bis schließlich eine das Handtuch warf und sich seitwärts laufend feige davonschlich. Er warf ihr eine leere Bierflasche nach. Missmutig legte er sich wieder hin.
"Ich bin erledigt", jammerte er wehleidig, als seine Frau eintrat, um nach ihm zu sehen. Er glaubte Herzrasen zu haben.
"Sieh mich nicht so sonderbar an!" Böck war unsicher, ob der Vorwurf ihm oder der Katze galt, die eingerollt auf seiner Bettdecke lag.
"Der Sturm wird sich gewiss bald legen und in der Hauptstadt gibt es gute Ärzte", ermutigte sie ihn. "Du darfst nicht alles negativ sehen. Denke positiv!"
"Das lässt sich leicht sagen. Was soll an meinem Zustand positiv sein?"
"Die Nachbarin möchte dir helfen. Sie meint, dass du vom Dämon deines Fetischs besessen bist und möchte versuchen, ihn mit ihrer magischen Kraft zu vertreiben."
Gustav Böck ordnete seine Gedanken. Dann beschloss er, sich nicht aufzugeben und weiter zu zanken.
"Schick sie zum Teufel! So ein Quatsch. Sie ist einfältig oder verrückt oder beides zusammen. Ich glaube nicht an ihre Hexerei. Geister habe ich hier noch nie gesehen, nur überall Krabben. Es ist das Fieber und dieser verdammte Husten, sonst nichts. Das ist so sicher wie die Sonne im Osten aufgeht und der Köter von nebenan morgen an unserer Haustür wieder sein Hinterbein heben wird."
Er wischte sich die Stirn. Ganz so sicher war er indessen nicht. Möglich, dass er der Alten unrecht tat. Zumindest wollte er den scheußlich bitteren Tee aus einem ihm unbekannten Unkraut probieren, den sie angeboten hatte.
"Soll ich dir etwas vorlesen?"
„Ja … äh, ich meine nein, verdammt noch mal, es nervt mich."
Zerstreut zupfte er am Ärmel seines Pyjamas.
"Mein Gott, sei nicht garstig wie ein Hundsfott zu mir, ich meine es ja nur gut."
"Ich will jetzt aber nicht zuhören", erwiderte er trotzig.
"Und ich mag nicht hilflos herumsitzen. Wir hätten nie hierher kommen sollen!", schrie Frau Böck nun schrill wie die Diva in der Oper, beinahe hysterisch.
"Bitte nicht so laut, ich bin nicht schwerhörig. Es hat dir auf der Insel doch bisher gut gefallen", wagte Herr Böck behutsam einzuwenden.
"Hätten wir keine Rücksicht auf die Katze genommen und wären sofort abgereist, wäre es nie so weit gekommen."
Sie keifte und redete und war nicht zu stoppen.
"Hätten, wären! Hol's der Geier, müssen wir andauernd streiten? Als uns die Hochzeitsglocken läuteten, warst du nicht so. Amalia, du hast dich verändert. Im alten Ägypten wurden Katzen übrigens verehrt."
"Doch, es war falsch. Sie hat uns bisher nur Ärger bereitet! Möglicherweise hat sie das Virus hergebracht. "
"Jetzt mach mal langsam und sei vernünftig, es war kein Fehler. Das Kätzchen ist mein Schätzchen. Es hält uns Mäuse fern. Ja bestimmt, und sogar die Ratten." Nach diesem kühnen Einwand fühlte er sich etwas besser.
"Natürlich es war falsch!" Als Amalia Böck wie immer das letzte Wort hatte, schlich sie aus dem Raum und zog die Tür hinter sich zu. Den Angeln entwich ein knarrendes Stöhnen. Ganz in der Nähe heulte ein Hund. Merkwürdig, dachte Herr Böck, denn in Wurfweite einer Bierflasche hatte noch nie einer zu heulen gewagt. Die Katze richtete aufmerksam ihre großen Ohren auf.
Ein stechender Schmerz durchzog seine linke Brustseite. Gleichzeitig befiel ein Krampf den Kiefer. Regungslos lag er da und traute sich nicht zu bewegen. Als er kurz darauf Mühe beim Schlucken hatte, da ahnte Gustav Böck, dass er möglicherweise bald mit den Engeln Hosianna singen würde. Es dünkte ihn, dass die Krabben mit jedem Tag näher kamen. Nur zu gut wusste er, dass sie sich nicht rein pflanzlich ernähren. Zuvor hatte sich eine bereits unverfroren ins Zimmer vorgewagt. Nacktes Grauen durchfuhr sein Gebein. Er versuchte seine Furcht zu verdrängen. Amalia hatte ihm sein Lieblingsgericht zubereitet, ein Brotfruchtpoi, mit dem sie ihre Kochkünste bewies. Sie fand ihren Mann unanständig laut schnarchend, die schwarze Katze immer noch auf der Bettdecke. Er nannte sie Mephisto. Wegen ihrer Fellfarbe. Der Name gefiel ihr nicht. Sie mochte weder diesen Namen noch Katzen. Vor allem keine schwarzen, denn sie war überzeugt, dass diese Unglück bringen. Sie fühlte sich immer unbehaglich, wenn Mephisto sie argwöhnisch mit ihrer gelben Iris anblinzelte, die Pupillen zu engen Schlitzen zusammengezogen, dann die Augenlider zukniff, um sich von ihr abzuwenden. Und sie hasste es, wenn sie die Krallen ihrer Pranken an den Stuhlbeinen wetzte. Wenn die Katze ihren Mann liebkoste, war da vielleicht unterschwellig auch Eifersucht mit im Spiel. Mit dem Nachbarshund kam sie besser aus, sicher war das der Grund, wieso die Eingangstür oft nassgepinkelt war. Verärgert warf sie nun Mephisto zu Boden. Die Katze benahm sich sehr seltsam, so, als ob etwas Übersinnliches anstünde. Erst streckte sie sich, was normal war, aber dann drehte sie sich dreimal im Kreis, was sie sonst nie tat, und sprang gleich wieder auf die Bettdecke zurück. Herr Böck erwachte.
"Wenn du ihr alles durchlässt, wird sie dich eines Tages noch ersticken", meinte Frau Böck. Gustav Böck stocherte lustlos mit der Gabel im Teller. "Ich mag nicht essen, es schmeckt mir unerklärlich fade."
Sie schaute ihn betroffen an. "Bitte zwinge dich. Schatz, ich liebe dich doch und möchte, dass du bei Kräften bleibst." In ihren Augen schimmerten Tränen.
"Ich mag jetzt nicht." Seine Stimme begann zu brechen, hörte sich an als käme sie aus dem Jenseits. Sein Zustand verschlechterte sich rapide. Das Atmen fiel ihm schwer.
Das Gerede seiner Frau, monoton wie Suren in einer Gebetsmühle, hatte ihn eingelullt. Als er so vor sich dahin dämmerte, glaubte er ein entferntes Brummen zu hören. Es war fast elf Uhr. Dies müsste das Flugzeug sein, das ihn retten könnte. Oder litt er, Gustav Böck, seit dreißig Jahren verheiratet und noch immer ein aktives Mitglied im Gesangsverein, etwa bereits unter Wahnvorstellungen? Er nahm vor, seinen Alkoholkonsum massiv einzuschränken … oder zumindest ein kleines bisschen. Schon bald musste er enttäuscht feststellen, dass das Geräusch nur das Tosen des Windes war, der die Insel fest im Griff hatte, der durch die Palmwipfel tobte, sich in ihnen verfing, ihre Blätter abriss und sie bedrohlich durch die Luft wirbelte. Wie aus unendlicher Ferne klang die Stimme seiner Frau: "Ich werde dir später einen Teller Hühnerbrühe bringen, vielleicht schmeckt dir das besser."
Der Regen hatte nachgelassen, der Orkan war eingeschlafen. Im nahen Hain flüsterte es: Unter allen Wipfeln ist Ruh’ … warte nur, warte nur, bald schläft auch du. Gib acht, dachte Gustav Böck, noch bist du selber Herr der Lage. Mit einem tiefen Seufzer schloss er die Augen. Im Fieberdelirium kam ihm die schreckliche Vision, dass man ihn in ein Kanu legte, dieses ins offene Meer schleppte und dort dem Wind, den Wellen und dem Meeresgott Tangaroa überließ, wie man es früher auf diesen Atollen mit den Verstorbenen machte. Er fragte sich, ob er womöglich bereits zu lange gelebt habe. Denn plötzlich sah er unzählige Totenschädel, alle ordentlich aufgeschichtet. So hatte er es einmal in einer Gedenkstätte für Kriegsopfer gesehen. Aus unzähligen dunklen Augenhöhlen schienen ihn ihre Blicke zu durchbohren. Er vernahm ein Raunen: "Wir werden dich holen. Fürchtest du dich etwa?" Nein, es war nicht die Furcht vor dem Tod. Wer heute stirbt, braucht es morgen nicht mehr zu tun ...
Bevor das jüngste Gericht hereinbrach, wäre da noch so vieles zu erledigen, durchfuhr es ihn. Unverzeihlich hatte er im Testament versäumt, einen würdigen Erben für seine Bierkronensammlung zu benennen. Da war auch noch eine offene Abrechnung mit diesem räudigen Köter, der ihm ein paar Wochen zuvor mit speicheltropfender Lefze aufgelauert hatte und arglistig dreist die Zähne ins Bein geschlagen hatte, weil er ihn mit dem Postboten verwechselte. Selbst Raubmöwen zeigten mehr Respekt, auch wenn sie einem ab und zu auf den Kopf schissen.
Im funzeligen Licht der Petroleumlampe hatte er das Gefühl, dass er sich nicht alleine im Raum befand, dass ihn jemand beobachte. Orientierungslos blickte er um sich. Und richtig, unvermittelt meinte er einen Schatten wahrzunehmen. War dies nun der Sensenmann oder gar der Leibhaftige? "Der Teufel soll mich holen!", murmelte Böck unbedacht vor sich hin. Der ließ sich nicht zweimal bitten und hockte mit einem katzenartigen Grinsen gleich frech auf seiner Brust. Es war nicht das fröhliche Grinsen seines Nachbarn Lono. Es schien etwas Berechnendes zu haben, es roch animalisch und es hatte spitzige Zähne. Die Brust drückte ihn, als ob er unter Wackersteinen begraben wäre; Herr Böck musste um Luft ringen. War dies das Ende?
"So leicht kommst du mir nicht an meine Seele", begehrte er auf und versuchte die Bedrohung wegzustoßen. Doch er war wie gelähmt. Dann vernahm er ein Dröhnen, das immer lauter wurde. Er schien sich durch einen dunklen Tunnel zu bewegen. An dessen Ende sah er sich selbst auf dem Bett liegend; auf seiner Brust thronte stolz die geliebte Katze. Gleichzeitig erfasste ihn ein nie zuvor gekanntes Gefühl von Erleichterung und Frieden. Schwerelos schwebte er weiter auf ein grellweißes Licht zu, das sich nach seinem irdischen Dasein erkundigte. Und, als ob die Antwort schon vorläge, kamen in ihm Erinnerungen hoch, die schon längst vergessen oder verdrängt waren.
Ein wirres Durcheinander schwirrte durch seinen Kopf. Da war Lono, der ihm einmal, als er beim Schwimmen in der starken Strömung der Atollpassage beinahe ertrunken wäre, das Leben gerettet hatte, indem er ihm ein Seil zuwarf und ihn an Land zog. Bisher hatte es noch keine Gelegenheit gegeben, sich dafür zu revanchieren. Darauf flimmerte vor seinem inneren Ich die Schachtel auf mit der Aufschrift ’Schnurreste, unbrauchbar’, die seine verstorbene Mutter, die noch die Entbehrungen des Krieges erlebt hatte, nie weggeworfen hatte, da man ja nicht wissen konnte, ob der Inhalt doch noch für etwas zu gebrauchen wäre. Was für ein armseliges Los! Oder hatte er bislang nichts begriffen und lag des Lebens höherer Sinn im Zusammenknüpfen von Schnurresten?
Für einen kurzen Moment kam er halb zu sich, spürte den Druck auf seiner Brust und fluchte laut: "Verdammter Kerl, wer bist du, was willst du von mir? Geh weg!" Darauf, so, als würde es eben geschehen, befand er sich in jener Bank, die einmal grundlos seine Überweisung blockiert hatte und er verzweifelt geschrien hatte: „Das ist ja wie im Kommunismus drüben!“ Dann wieder sah er sich mit seinem Freund Lono in einer Hafenspelunke der Hauptstadt, wo ein betrunkener Legionär, der sich in die Bluse eines Flittchens an der Theke verguckt hatte, fragte, ob der Inhalt echt sei. Worauf das Mädchen die Bluse hochhob und beleidigt rief: „Natürlich ist er echt!“ Für den Bruchteil einer Sekunde befiel ihn noch das schlechte Gewissen, da er, wegen all dem menschlichen Elend im Pflegeheim und dem unausstehlichen Phenolgeruch von Desinfektionsmitteln, es vermieden hatte, seinen alten Vater öfters zu besuchen, bis es zu spät dafür war. Der Himmel möge ihm verzeihen.
Das Herz von Gustav Böck setzte ein paar Schläge aus, die Dramaturgie des Lebens zog jedoch unaufhaltsam weiter durch sein Gehirn. Das Letzte, was er noch wahrnahm, war die geliebte Katze, sein Heimatdorf mit den grünen, rollenden Hügeln, den wallenden Kornfeldern, dem Lächeln des Sees, am fernen Horizont der Alpenfirn. Sachte dämmerte bereits der Morgen ins Zimmer. Er sah nicht mehr, wie Amalia eintrat, einen Teller dampfender Suppe in ihrer Hand. Er hörte nicht mehr, wie sie ihn vor Schreck fallen ließ, als sie ihn leblos mit der zufrieden schnurrenden Katze auf der Brust vorfand. Denn da atmete Gustav Böck schon nicht mehr. Der Kreis war geschlossen; der Herr hat's gegeben, der Herr hat's genommen.
Frau Böck war der felsenfesten Überzeugung, ihr Mann sei wegen der schwarzen Katze Mephisto erstickt. Die Nachbarin vermutete ein Fluch des Tiki-Fetischs. Sein Saufkumpan Lono erwog zögerlich, man könne nicht ausschließen, dass er sich an dem selbstgebrauten Fusel vergiftet habe. Man holte mangels eines Arztes die ausgebildete Krankenschwester aus dem Dorf, die nebenbei den kleinen Tante-Emma-Laden führte. Sie schrieb in die Todesurkunde mit unsicherer Hand ’Corona’. Doch bald darauf wurde gemunkelt, dass der räudige Hund, der Gustav Böck gebissen hatte, verendet sei; wahrscheinlich an der Tollwut.
Um der Hitze Rechnung zu tragen, müssen in tropischen Regionen die Verstorbenen möglichst rasch beerdigt werden. So wird der Tod von Gustav Böck wohl immer ein Rätsel bleiben. In einer Hinsicht lag seine Frau aber zweifelsfrei richtig: Sie hätten diese Insel besser nie betreten.
Die schwarze Katze wurde nicht wieder gesehen. Und als man Herrn Böck in einer einfachen Kiste aus Palmholz im Schatten der Mauer hinter dem Kirchlein beisetzte, weinte nicht nur der Himmel. Man murmelte ein kurzes Gebet und verscheuchte zwei aufdringliche Krabben, die in der Nähe herumlungerten. Nirgendwo, selbst auf geheiligter Erde, konnte man vor ihnen sicher sein.
Sand und Sturmwellen haben die Spuren von Gustav Böck verwischt. Die Blumen auf dem Grab sind längst verwelkt. Nur steht dort noch immer, inzwischen bereits arg verwittert und mit Moos bewachsen, die Statue seines Fetischs, der geheimnisvolle Tiki. Und schon bald, in ferner Zukunft bestimmt, wird niemand mehr bezweifeln, dass er antik ist. Hartnäckig aber geht unter den Dorfbewohnern der Glaube um, dass dort in stürmischen Nächten der schwarze Schatten einer Katze umhergeistert.
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